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Bräuteln in Sigmaringen NAUF AUF d’STANG! Höhepunkt der "Semmerenger Fasnet" ist das Historische Bräuteln am Fasnetsdienstagmorgen. Hierbei werden die Hochzeiter des vergangenen Jahres - wohlgemerkt nur die Männer - auf einer gepolsterten Stange um den Marktbrunnen getragen. Dabei werfen sie zur Freude vor allem der Kinder aus einem großen Korb Brezeln, Orangen, Süßigkeiten, Wurst und Wecken unter das zu Hunderten erschienene närrische Volk. Letzteres bekommt auf diese Weise Anteil am Eheglück des Brautpaars und zeigt dies, indem es zum Klang der Musik von Stadtkapelle, Spielmanns- und Fanfarenzug närrisch um den Marktbrunnen "juckt" - so will es der Brauch. Wenn also andernorts die Narren am Fasnetsdienstag bereits erste Ermüdungserscheinungen zeigen, geht es in Sigmaringen noch einmal richtig los. Nach alter Überlieferung ist das Bräuteln nach dem Dreißigjährigen Krieg entstanden. Die Bevölkerung habe, von Not geplagt, die Lust selbst am Heiraten verloren. Als sich schließlich doch einer der jungen Burschen traute, hätten ihm seine Kameraden versprochen, dass sie ihn an der Fasnet auf einer Stange und unter Trommeln und Pfeifen um den Marktbrunnen tragen. Tatsächlich geht der Brauch aber wohl auf ältere Vorbilder zurück, die in Sigmaringen schon Ende des 16. Jahrhunderts erwähnt werden. Im Februar 1672 verbietet Fürst Meinrad II. von Hohenzollern-Sigmaringen den groben Brauch, Gesellen in den Stadtbrunnen oder sogar in die Donau zu werfen. Möglicherweise bildet dieses Verbot den Übergang zur heutigen Form. Die Sigmaringer jedenfalls feierten 1872 eine 200-Jahrfeier ihres Bräutelns. 275 Jahre Stangenreiten 275 Jahre Historisches Bräuteln wurden – die Semmerenger Fasnet hat wohl eine eigene Zeitrechnung – erst im Jahre 1998 gefeiert, und dabei nahm man ein anderes Datum zum Anlass: denn in seiner jetzigen Form lässt sich das Bräuteln mit Sicherheit seit dem Jahre 1723 belegen. Im Fürstlich-Hohenzollerischen Archiv in Sigmaringen existiert in den Beilagen zur Renteirechnung Sigmaringen aus dem Jahre 1722/23 eine Ausgabennotiz mit dem Wortlaut: "9. Februar 1723, zufolge gnädigsten Befehl denen jungen Gesellen allhier vor die gewöhnliche Aus Kaufung des Bronnen Tragens, 4 Gulden, 10 Kreutzer." Der damalige Fürst Josef von Hohenzollern-Sigmaringen hatte sich am 20. April 1722 mit Franziska Ludowika Gräfin von Oettingen-Spielberg vermählt und kaufte sich an der darauffolgenden Fasnet vom Bräuteln frei. Anders als besagter Fürst Josef 1723 haben sich einige seiner Nachfolger und unzählige bürgerliche Ehemänner nicht gescheut, den köstlichen Brauch zu pflegen. Wobei das Recht sich bräuteln zu lassen nicht etwa nur den Neuvermählten zusteht: grüne, silberne, goldene und hin und wieder sogar diamantene Hochzeiter wagen den Ritt auf der Stange. Dass ab und zu auch ein Zugezogener dabei ist, der auswärts im Hafen der Ehe gelandet ist, tut der Sache keinen Abbruch. Ansonsten huldigt man in Sigmaringen der reinen Lehre: Kein Unverheirateter darf jemals auf der Stange sitzen, und sei er noch so prominent. Gebräutelt wird übrigens im ganzen Sigmaringer Raum, zum Beispiel in Laiz und Inzigkofen, in Schmeien und Jungnau, Sigmaringendorf und Scheer. Dass jede dieser Gemeinden natürlich den Anspruch erhebt, hier sei das Bräuteln „erfunden“ worden und diese Erfindung mit einer entsprechenden Sage belegt, versteht sich. Abklatsch in Haigerloch? Bemerkenswert ist allerdings der Umstand, dass auch im entfernteren Haigerloch gebräutelt wird. Denn dorthin hat eben jener Fürst Josef (1702-1769), der sich 1723 in Sigmaringen freigekauft hat, wegen Streitigkeiten mit der Stadt und der österreichischen Regierung als deren Landesherr den Sigmaringer fürstlichen Hof verlegt. Ob da Zusammenhänge bestehen? Doch das ist eine andere Geschichte. Auftakt zum Historischen Bräuteln in Sigmaringen ist die Übergabe der Bräutlingsstange an die Bräutlingsgesellen am Fasnetssonntag auf dem Marktplatz. Damit übernehmen die Narren die Macht in der Stadt und der Bürgermeister wird abgesetzt. Zum geflügelten Wort für alle närrischen "Semmerenger" wurde der erste Satz der feierlichen Weisung an die Bräutlingsgesellen, die Jahr für Jahr ergeht: "Jetzt ischt d’Fasnet wieder komma Voller Luscht und Narretei D'Stang und d'Fahne han mr gnomma Wia dös Brauch von alters sei! Wia vor viela hundert Johra Wo der Brauch entstande ischt G'schiehts au heut, wo's Fasnet wora Daß der Brauch jo it verlischt!" Nach diesen Worten beginnen die Bräutlingsgesellen mit dem Laden der Bräutlinge im ganzen Stadtgebiet. Die Bräutlingsgesellen selber müssen ledig sein, um die 20 Jahre alt und ihrer ehrenvollen Aufgabe würdig. Früher besorgte das Bräuteln der Jahrgang, der jeweils zum Militär eingezogen wurde, heute sind die Bräutlingsgesellen eine der Traditionsgruppen der Narrenzunft Vetter Guser. Deren Entstehung ist wiederum ohne das Historische Bräuteln nicht denkbar. Trotz glanzvoller Umzüge befand sich die Semmerenger Fasnet in den Jahren vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs in einer tiefen Krise. So setzte sich bei den Sigmaringer Narren nach und nach die Überzeugung durch, dass das althergebrachte Brauchtum nur durch einen speziellen Verein bewahrt werden könne. Und zu genau diesem Zweck wurde am 4. Dezember 1912 die Fastnachtsgesellschaft "Vetter Guser" gegründet. Vereinszweck ist bis heute "die Pflege des heimischen Brauchtums, vor allem die Fortführung der traditionellen 'Semmerenger Fasnet' mit dem historischen 'Bräuteln' " – so steht es in der Satzung. Satzung hin, Satzung her, für einen echten „Semmerenger“ ist es schlichtweg Ehrensache, sich anläßlich von Hochzeit oder Ehejubiläum bräuteln zu lassen. Fremde werden zu Einheimischen Manche meinen sogar, erst dann könne man von einem echten "Semmerenger" sprechen, wenn er einmal auf der Bräutlingsstange gesessen habe, was wiederum den nicht in Sigmaringen geborenen "Semmerengern" eine echte Chance gibt, solche zu werden. Die holden Weiblichkeiten sind übrigens keineswegs abgeschrieben, zumal ohne sie besagte Ehrensache ja gar nicht zustande käme: Sie sind beim Historischen Bräuteln Gäste auf dem Balkon des Rathauses und können so den tapferen Rittern der Stange bewundernde Blicke zuwerfen und sie anfeuern. Der dabei verwendete Schlachtruf ist 1949 aufgekommen, trifft den Nagel auf den Kopf und heißt – wie könnte es anders sein – "Nauf auf d’Stang!" Hermann Brodmann, veröffentlicht in "Narri-Narro" 2/2002 |
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