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Bräuche faszinieren moderne Menschen
Der Freiburger Ethnologe Werner Mezger über den Folkloreboom und die merkwürdigen Vorschriften der Traditionswächter Das Interview führte Arnold Rieger
Täuscht der Eindruck, dass Bräuche in sind? Der Eindruck täuscht nicht. Feste und Bräuche stehen derzeit so hoch im Kurs wie noch nie. Überliefertes wird gepflegt, Neues erfunden: Bräuche, keineswegs nur fastnächtliche, faszinieren den modernen Menschen ungemein und haben eine dementsprechend expansive Dynamik entwickelt. Woran liegt das? Es hat mit den Veränderungen in der Zeitwahrnehmung und im Raumempfinden der Menschen zu tun und auch mit den Umbrüchen in der Gesellschaft. Das klingt kompliziert. An Beispielen wird’s einfacher. Beginnen wir mit dem Zeitempfinden: Zeit scheint etwas zu sein, was man früher noch hatte, was uns heute aber fehlt. Nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv beschleunigt sich alles. Insbesondere hat die Zeit für uns ihre Rhythmen verloren, die Zyklen, die es früher noch gab. Das „Alle Jahre wieder“, wie es im Weihnachtslied besungen wird, ist ja ein Wert an sich. Und genau das leisten Feste und Bräuche: Sie kehren Jahr für Jahr wieder und geben unserem Dasein einen Rest an Zyklizität zurück. Man lebt auf Feste zu, wenn sie bevorstehen, und zehrt davon, wenn sie vorbei sind. Diese Gliederung des Daseins sucht der Mensch. Ähnlich verloren fühlen sich viele ja auch im Raum ... Ja, die Welt ist kleiner geworden, und unter dem Druck der Globalisierung kommt es zu einer gewissen kulturellen Einebnung. Zunehmend mehr Orte sehen gleich aus, manche Forscher nennen das sogar McDonaldisierung der Welt. Es gibt dazu aber auch eine Gegenbewegung: Globalisierung wird beantwortet durch die Re-Inszenierung lokaler Besonderheiten. Konkret: Je mehr Phänomene sich international gleichen, desto stärker wächst das Bewusstsein für das, was es nur zu Hause gibt. Die Wissenschaft bezeichnet dieses Ineinandergreifen von Globalisierung und Lokalisierung bereits als „Glokalisierung.“ Und welche gesellschaftlichen Veränderungen machen Sie für die Renaissance der Bräuche verantwortlich? Unsere Gesellschaft ist unübersichtlicher geworden. Durch Mobilität und Migration kennt selbst im kleinsten Dorf nicht mehr jeder jeden. Es gibt zunehmend mehr Menschen fremder Herkunft unter uns, die einen anderen kulturellen Baukasten mitbringen als wir. Menschen, die schon da, aber noch längst nicht angekommen sind. Das weckt bei den Einheimischen den Wunsch nach Identität. Feste und Bräuche bedienen dieses Bedürfnis. Wirkt die Pflege von Bräuchen also integrativ? So einfach ist das nicht. Denn was die einen integriert, kann andere ausgrenzen. Es ist kein Zufall, dass sich gerade am Rande von Festen, die für die Mitwirkenden ein besonderes Gemeinschaftserlebnis sind, mitunter die Aggressionen derer entladen, die sich nicht zugehörig fühlen. Dem Feiern einer Gruppe fremd gegenüberzustehen frustriert. Erfreulicherweise gibt es aber auch sehr gute Ansätze, die neuen Mitbürger in lokale Traditionen einzubeziehen. Vor allem Kindergärten leisten hier großartige Arbeit. Mittlerweile gehen freilich auch die Brauchträger selber bewusst auf Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund zu. Darin liegt eine große Chance für gelingende Integration. Was ist denn überhaupt ein Brauch? Eine rituell genormte, regelmäßig wiederkehrende gemeinschaftliche Handlung, die durch Tradition gefestigt ist und einen Bedeutungsgehalt hat. ...Bedeutungsgehalt? Solange er praktiziert wird, hat jeder Brauch einen Sinn, der sich freilich im Lauf der Zeit wandeln kann. Der Bedeutungsgehalt muss übrigens nicht unbedingt kollektiv sein, er kann sich für jeden Teilnehmer individuell darstellen. Wie alt muss eine Gewohnheit sein, damit sie sich Brauch nennen darf? Das bestimmen die Akteure selbst. Vielfach erklären sie schon nach sehr kurzer Zeit irgendwas zum Brauch. Um Junges gegen noch Jüngeres abzugrenzen, wird dann mit Konkurrenzbegriffen wie historisch und althistorisch gearbeitet. Neben wirklicher Überlieferung gibt es durchaus auch erfundene Traditionen, konstruierte Geschichte also. In Südosteuropa zum Beispiel sind nach dem Zerfall Jugoslawiens viele Folkloregruppen entstanden, deren Tradition mehr Imagination als Realität ist. Da geht es letztlich um politische Interessen und Identitätsstiftung. Manche Brauchtum-Ajatollahs wachen eifersüchtig und intolerant über ihre Tradition. Darf man Bräuche nicht verändern? Bräuche sind immer statisch und dynamisch zugleich. Nur wenn beide Elemente ausgewogen sind, ist ein Brauch wirklich lebendig. Wenn die Beharrungselemente überhandnehmen, entsteht stillgelegte Vergangenheit. Der Brauch wird dann zum Pflegefall. Umgekehrt gilt: Wenn der Wandel überhandnimmt, löst sich der Brauch auf. Wie erklären Sie die heutige Traditionsbegeisterung? Wie sehen Sie moderne Bräuche, zum Beispiel Halloween? |
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