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Jerusalem und Babylon
Von Heiligen und Narren: Die Ursprünge der Fastnacht

Siehe alles ist nichtig
und ein Haschen nach Wind.
Prediger 1, 14

Es ist Fastnacht. Was sollen da weise Worte aus der Bibel?

Zugegeben, als Fastnachtsmotto taugen sie nicht. Und dennoch: Wenn kurz vor Beginn der Fastenzeit seltsam gekleidete und maskierte Menschen durch die Straßen ziehen, Schellen klingen und Narren ihre Scherze treiben, dann ist das auch mahnendes Erinnern daran, daß ein gottloses Leben allem hektischen Bemühen zum Trotz wertlos, sinnlos ist. Fastnacht als - aus theologischer Sicht - abschreckendes Beispiel. Weit hergeholt? Man muß in der Tat ein gutes Stück zurück gehen, um die ursprüngliche Bedeutung der Fastnacht und vieler ihrer Bräuche zu verstehen, hin zu den Quellen eines Festes, das durch die Vielfalt seiner Variationen fasziniert bis zum heutigen Tag.

Ein Beispiel für das Wechselspiel zwischen kirchlicher Lehre und Fastnachtsbrauch: "Wenn ich mit Menschen- und Engelszungen redete, hätte aber die Liebe nicht, so wäre ich wie ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle", so die bekannte Passage aus dem Brief desPaulus an die Korinther, die über lange Zeiten in den Gottesdiensten zum Fastnachtssonntag gelesen wurde. Die frühen Fastnachtsnarren ließen sich von der Theologie inspirieren - die Schelle wurde eines ihrer Symbole, und sie ist es geblieben, obwohl gewiß die meisten Narren, die heute den Schellenschmuck anlegen, sich dieses Zusammenhangs nicht bewußt sind.

Daß die ursprüngliche Bedeutung von Bräuchen für die Praktizierenden kaum noch zu erkennen ist, macht sie allerdings nicht automatisch zu sinnentleerten, sinnlosen Ritualen. "Solange ein Brauch geübt wird, hat er einen Sinn", sagt Dr. Werner Mezger. Er, Professor für Volkskunde an der Universität Freiburg, ist gewiß eine der großen Autoritäten bei der Erforschung und Interpretation fastnächtlicher Traditionen...

Zunächst allerdings sagt er, was Fastnacht nicht ist und nie war, obwohl das verschiedentlich noch immer behauptet und publiziert wird. Fastnacht war kein germanischer Fruchtbarkeitsritus, kein Ritual zur Winteraustreibung oder zur Abschreckung von Dämonen. Mezger: "Fasnacht resultiert ganz und gar aus der Tradition des christlichen Abendlandes." Wobei man anfügen darf, daß jene Grenzlinien zwischen der schwäbisch-alemannischen Fastnacht, Fasching und rheinischem Karneval, die für die Gralshüter des Brauchtums so entscheidend sind, zunehmend verschwimmen, je tiefer man hinabsteigt. Die Wurzeln sind dieselben.

Man stelle sich jene Zeiten vor, als die 40tägige Fastenperiode noch ernst, sehr ernst genommen, überwacht und Zuwiderhandeln hart bestraft wurde. Noch 1536 wurde in Zürich ein junger Mann verbrannt, weil er in der Fastenzeit Fleisch gegessen hatte. Also: 40 Tage ohne Fleisch, Geflügel, Eier, Milch, Schmalz, Fett, Butter, Käse, 40 Tage ohne jedes Amüsement, 40 Tage auch der verordneten sexuellen Enthaltsamkeit -"eine ungeheure Zäsur" nennt es Werner Mezger. Die Speisekammem wurden ratzeputz geleert, es wurde gegessen und getrunken, gefressen und gesoffen; man wollte noch einmal seinen Spaß haben, sang und tanzte, trieb derbe Scherze in der Nacht vor dem langen Fasten, der "Fastnacht". Wissenschaftlich gesprochen: Zunächst war Fastnacht -so Werner Mezger -"ein rein ökonomisch bedingtes Schwellenfest".

Das sollte sich im 15. Jahrhundert ändern. Bis dahin betrachtete und tolerierte die katholische Kirche das fastnächtliche Treiben als eine Art Ventil: Die Schäfchen durften sich noch einmal ausleben - auf den Putz hauen, wie man Neudeutsch sagen würde, um sich dann um so braver dem Fasten und Büßen zu widmen. Dann allerdings nahm sich die Theologie der Fastnacht an - man begann mit der Interpretation dessen, was sich da Buntes und zuweilen Liederliches vor der Fastenzeit und vor Ostern abspielte. Das entscheidende Stichwort dabei: die Zweistaatenlehre des heiligen Augustinus mit den antithetischen Entwürfen des Gottesstaates (civitas Dei) und des Teufelsstaates (civitas diab oli). Aus dieser Sichtweise wurden Fastnacht und Fastenzeit zu einem Gegensatzpaar - die vorösterlichen Bußwochen als Zeit der besonderen Gnade Christi, und auf der anderen Seite die Fastnachtstage als Manifestation einer eitlen, unbeilvollen, einer verkehrten Welt. Fastenzeit und Fastnacht - Jerusalem und Babylon, untrennbar verbunden. "Im Namen des Herrn Entechrist der Narrotag erstanden ist", so sang man in Wolfach noch in den 70er Jahren unseres Jahrhunderts.

Die Wechselwirkungen zwischen Lehre und Leben waren fortan vielfältig. Allerdings wäre die Vorstellung viel zu simpel, daß die kirchliche Lehre Fastnachtsriten quasi vorgegeben habe. Das Volk hörte, sah, interpretierte, karikierte auch, spottete und persiflierte, und die Kirche ließ es weitgehend geschehen. Sechs Tage lang, dann mußte Schluß sein. Vom Narrenschiff zurück ins Kirchenschiff - dem Spaß folgte die Buße. Man müsse zuerst die Krankheit kennen, die man in der Fastenzeit zu heilen gedenke, schrieb im 15. Jahrhundert der Basler Franziskaner Johannes Meder; er traf damit wohl eines der wesentlichen Motive, warum die katholische Kirche im Kern positiv zur Fastnacht stand.

Zur Ökonomie und der Theologie kam ein drittes: die Integrationsfigur der Fastnacht, der Narr. Es gab sein Urbild, so erklärt Werner Mezger, schon seit langer Zeit, hergeleitet wieder aus der Bibel. "Es ist kein Gott!" sagt höchst frevelhaft der Narr im 52. Psalm, und als solchen finden wir ihn in illustrierten Psalterhandschriften. Der Narr ist der ungläubige Mensch, ignorant gegenüber der göttlichen Heilsordnung und ignorant gegenüber allem, was von der Gesellschaft normalerweise für gut und richtig gehalten wird. Narrenidee und Fastnacht finden zusammen - die verkehrte Welt, die so sündhafte, sie ist nun schlicht "närrisch".

All das ist Geschichte. Heute muß niemand mehr vor Aschermittwoch den Kühlschrank leeren, niemand, der während der Fastenzeit ein Steak ißt, muß das weltliche Strafgericht fürchten, das Leben kann - Geld vorausgesetzt - ganzjährig eine einzige Orgie sein, und statt um ihr Seelenheil sorgen sich viele eher wegen ihrer Orangenhaut. Braucht es heute noch die Fastnacht? "Sie ist wichtiger denn je", meint Werner Mezger: als "soziales Ventil", als "Entlastungserlebnis", denn sie bietet die Möglichkeit, aus der Alltagsrolle auszubrechen, für einige Zeit ein anderer zu sein, neue Kontakte zu knüpfen. Sechs Tage lang ist die Welt anders - lustiger für die Freunde, lauter für die Feinde der Fastnacht. Das revolutionäre Potential der "tollen Tage" ist dagegen zu vernachlässigen; Spottgesänge oder Büttenreden erweisen sich alles in allem als eher systemstabilisierend denn zersetzend - was man nicht zuletzt daran erkennen kann, daß es prominente Politiker schrecklich grämt, wenn die Narren sie ignorieren.

Fastnacht boomt. Neue Narrenvereine entstehen, und die TV-Übertragungen fastnächtlichen Treibens entwickeln sich zu verlässlichen Quotenrennern. Eigentlich, so erklärt Werner Mezger, müßte die Welt im Zeichen der Satelliten, der hyperschnellen Datenübertragung und des permanenten Informationsangebotes klar zu überblicken sein. Aber der Schein der allumfassenden Aufgeklärtheit trügt, und die verwirrten Menschen sehnen sich nach Überschaubarkeit, Identität, Heimat.

Doch ist der Brauch, gesucht und geschätzt als Hort der Verläßlichkeit, ein"paradoxes Gebilde", wie Mezger sagt. Er ist bestimmt durch Statik, Beharrung, Tradition einerseits, und andererseits durch Dynamik, Wandel, Fortentwicklung. Dieser Widerspruch ist es, der fastnächtlichen Brauchtumspflegern zuweilen den Humor raubt und sie trotz Häs ernster scheinen läßt als einen Ministerialbeamten beim Erläutern der Arbeitsmarktstatistik.

Zum Schluß noch ein paar tröstende Worte für jene, die während der Fastnacht ihre Köpfe am liebsten unter den Kopfkissen vergraben würden. Auch sie stammen aus der Bibel. "Ein jegliches hat seine Zeit", heißt es: "Weinen hat seine Zeit, Lachen hat seine Zeit, Klagen hat seine Zeit, Tanzen hat seine Zeit..."

Wolfgang Wissler im "Südkurier" vom 8./9.2.1997

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