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Wie neugeboren

von Monika Bönisch

Januar 1991. Golfkrieg, nachdem der Irak Kuwait überfallen hat. Abends in der Tagesschau die „Erfolge“ US-amerikanischer Bombenflieger. Chirurgisch genaue Treffer auf militärische Anlagen im Irak. Meldungen über so genannte „Kollateralschäden“ sickern durch.
In den Jahren zuvor war die schwäbisch-alemannische Narretei um diese Zeit in vollem Gang. Dieses Jahr ist alles anders. Auch in Gruol. Eigentlich will niemand auf die Fastnacht verzichten, aber so richtig zum Feiern ist den Narren auch nicht zumute. Das Örtchen bei Haigerloch hat einige alte Bräuche hoch gehalten: Am „Auselega Dauschdeg“ wurde für die kommende Fasnet Geld gesammelt. Abends traf man sich beim „Juschta“, beim August, zu einer Art „Hausball“ und trank ein, zwei oder mehr Schnäpsle. Und beim Höhepunkt der Fasnet am Montag, dem Umzug, den die Gruoler Vereine organisierten, „vermaschkerte“ sich jeder so gut er konnte. Doch schon in den vergangenen Jahren fehlte der richtige Schwung bei der Fastnacht in Gruol. Und nun auch noch dieser Krieg im Irak ... Wie in den meisten Dörfern und Städten fällt die Fastnacht in Gruol 1991 schließlich wegen des Krieges ganz aus.


Dr Adlerwied ond sei Frau,
dia leabad ganz genau,
ond wenn se nons mai hoand,
no fressad se Kohlraba,
ond verbrennte Epflschnitz,
dass dr Dreck zom Asch naus pfitzt.
(Fasnetssprüchle aus Gruol bei Haigerloch)




Müde Fastnacht
Auch im folgenden Jahr will sich die Fastnachtslaune nicht so recht einstellen. Die Mitglieder der Vereine haben immer weniger Lust, die närrischen Tage zu organisieren. Die Gruoler Fastnacht, angeblich mit langer Tradition, droht einzuschlafen.
Doch dann zieht wieder das Gemunkel von den alten Holzmasken durchs Dorf, die irgendjemand irgendwann irgendwo gesehen haben will. Fantasie oder Fantasterei?
Fantastisch wäre es schon ...
Getreu dem Motto: „Wenn du nicht mehr weiter weißt, dann gründe einen Arbeitskreis“ rufen einige Gruoler im Juni 1992 den Narrenverein ins Leben. Der Fastnacht muss auf die Beine geholfen werden. Außerdem ist da wieder das Gerücht von den Holzlarven ... Dem will man, muss man nachgehen.


Verhäubelte Köpf’ und Holzköpf’
Der junge Verein, dem Roland Flaiz vorsitzt, befragt alte Gruoler Männer und Frauen, viele bereits über 80, was sie noch von der Fastnacht vor dem Zweiten Weltkrieg wissen. Sie erzählen. Vom Singwettbewerb im „Rössle“, bei dem die Sänger nur die „Mäuler aufgestreckt“ und so taten, als ob sie sängen. Von dem Zug der Bauernhochzeit in den Zwanziger- und Dreißigerjahren durch den Flecken. Von Hexenhäusern, in denen sich die Mädchen versammelten, um schließlich von männlichen Hexen aufgespürt und „verhäubelt“, also verstrubelt zu werden. Von Dominokleidern und Strohbär, vom Scheffeltanz (eigentlich „Schäfflertanz“ = Tanz der Schäffler, Küfer und Fassbinder) und wieder von den alten Holzköpfen ...


Närrische Kleinarbeit
Die Leute vom Narrenverein stöbern in Stadt- und Staats-Archiven, entziffern mühevoll alte Schriften im Pfarramt, lesen Presseberichte. Und entdecken den Hinweis, dass in den 1880er Jahren „die Butzen im Ort rumgesprungen sind“, wie Helmut Siedler erzählt, der Brauchtumspfleger des Vereins.
Weiter durchforsten sie alte Gebäude und Dachböden – und haben Erfolg: Vier Masken tauchen auf! Hinzu kommt eine fünfte, die in den Vierzigerjahren verkauft worden ist, und die die Narrenzunft Haigerloch verwahrt.
Fachleute müssen ran: Werner Mezger, Volkskundeprofessor in Freiburg, und Jürgen Hohl, Trachten- und Häsexperte aus Eggmannsried, schätzen, dass die aufgespürten Larven zwischen 1830 und 1870 entstanden sind. Vier davon gehören eindeutig zur selben Maskenfamilie, während die fünfte ein misslungener Schnitzversuch zu sein scheint. Die Maske in Haigerloch hat noch die vollständige Kopfbedeckung und ein Larventuch mit roten und schwarzen Fransen. Die Fachleute sind beeindruckt.


Wiedergeburt einer Fastnachtsfigur
Schnitzmeister Reinhold Schäle aus Ravensburg fertigt Kopien von zwei Masken an, Jürgen Hohl den Prototyp nach Art des erhaltenen Larventuchs. Die Wiedergeburt des „Fransabutz“ – auf diesen Namen einigt man sich – steht unmittelbar bevor. Denn, dass es nun weitergehen muss und die Masken nicht einfach im Museum verschwinden dürfen, darüber sind sich alle einig. Der Narrenverein will die alten Figuren wieder aufleben lassen, damit in Gruol eine zünftige Fasnet entstehen kann. Nachdem der Prototyp der Narrenfigur fertig ist, stehen dem Verein Schnitte zur Verfügung und die Häser können angefertigt werden.
Die Frauen bereiten die Schnitte vor, die zukünftigen Hästräger müssen ihre Fransen nach Schablone selbst schneiden. Näherinnen befestigen die Fransen auf Leinenstoff, eine näht die Kopfbedeckungen vor. Sattler Otto fertigt die „G’schelle“ und die Männer befestigen die Larventücher an den Masken, die Reinhold Schäle getreu der alten Originale geschnitzt hat.


Voila, der Fransabutz
Zu der Narrenfigur gehören eine mit Fransen besetzte Jacke und Hose, schwarze Schuhe, weiße Handschuhe, das Facinettle, eine Art Krawatte, die früher den einfachen Mann zum Herren machte. Das Häs ist zweifarbig mit 150 Metern Fransen besetzt, immer in Schwarz plus Rot, Blau, Grün, Beige, Braun oder Grau. Mit Streckschere oder „Hagaschwanz mit Saublodr“ treibt er sein Unwesen – mit dem Fortpflanzungsorgan des Ochsen, einem Sexualsymbol, und der Blase als Sinnbild für die Vergänglichkeit des Lebens. Oder Fransabutz gibt sich moderat, trägt einen Weidenkorb bei sich und verteilt daraus Bonbons, Fasnetsküchle und Schnäpsle. Zehn Glocken am Schellenriemen, die das Häs umgeben, kündigen den Fransabutz vernehmbar an – erstmals bei der Fastnacht 1995.



Bauernhochzeit - Ein beliebtes Motiv bei Fastnachtsspielen zu Anfang des 19. Jahrhunderts


Haierle, Friedle, Schloapfer und Sales
Hinter dem Überbegriff „Fransabutz“ verbergen sich vier Figuren mit vier verschiedenen Masken, den Kopien der gefundenen Originallarven. Bei der Namensgebung muss der Narrenverein kreativ werden – denn die Bezeichnungen für die Originale sind nicht überliefert. Inspiriert durch die Maskenbesitzer aus dem 19. Jahrhundert sowie von
der Kopfbedeckung entstehen Haierle, Friedle, Schloapfer und Sales:
Haierle nach dem Lederbirett, wie es früher die Pfarrer, die „Haierle“ (von „Höher -“ = „Haier“gestellter) trugen; Friedle nach dem früheren Maskenbesitzer Fridolin Schneider; der Figur mit der dunklen Maske wird übrigens ein Dreispitz mit einem Federbusch verpasst – vom Hahn, dem Symbol für Geilheit und Wachsamkeit; Schloapfer nach dem Holzfuhrmann Lukas Pfister, der mit seinem Pferdefuhrwerk die Holzstämme aus dem Wald zur Säge „schloapfa“ musste und Sales nach dem Sohn des Maskenbesitzers Josef Flaiz, der im Dorf kurz „d'r Sales“ genannt wurde.


Konkurrenz des Fransabutz’?
Etwa um die Zeit, als sich der Narrenverein gründet, kommen einige jüngere Gruoler auf die Idee, eine Hexengruppe zu bilden, die Walpurga-Hexen. Der Narrenverein ist nicht begeistert; er will die traditionellen Figuren zur Geltung bringen. Deshalb bietet er der Hexenfraktion an, in der Figur des Fegers aufzutreten. Der Feger trägt eine Kopie der fünften gefundenen, grob geschnitzten Maske. Er steht außerhalb der Gruppe der Fransabutza und trägt kein Fransenhäs, sondern eine einfache dunkle Hose, einen Mantel mit rautenförmig aufgenähten Zickzack-Litzen, rote Manschetten und ein Larventuch mit zwei Fuchsschwänzen. Die Hexengruppe kann sich mit dem Feger nicht anfreunden und legt sich schließlich 1998 einheitliche Hexen-Holzmasken und Häser zu, neu entworfen und gestaltet.
Die Gruoler Narren wollen nicht gegeneinander arbeiten; sie sind angetreten, um die Fastnacht weiter zu pflegen. Die beiden Gruppen gehen aufeinander zu. Heute sind die Walpurga-Hexen eine Sparte des Narrenvereins Gruol und stellen den dritten Vorstand. Das zehnjährige Jubiläum des Narrenvereins feiern Fransabutz und Walpurga-Hexen zusammen.
Inzwischen springen 90 Fransabutza und Feger, 35 Leute von der Tanzgarde und etwa 90 Walpurga-Hexen zur Fasnet durch Gruol.
Und damit die Gruoler Fasnet niemals in Vergessenheit gerät, fegt der Feger mit seinem Reisigbesen die Fasnet in die Herzen der Menschen.


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