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Ausgestopfte, Kneller und Milka-Gruppen

von Monika Bönisch

Ein verwahrloster, vermummter Geselle auf dem Gehweg verschränkt seine Hände zur Spitzbubenleiter. Sein Kompagnon steigt auf, hangelt sich mit seinem unförmigen Körper in die Höhe und glotzt unverschämt durch die Fensterscheibe des Wohnhauses. Ein paar Meter weiter auf der Straße ist kein Durchkommen. Zwölf, dreizehn Gestalten, verbeulte Hüte, Kappen, Eimer und Bauhelme auf dem Kopf und Gardinenstoff vor dem Gesicht, wälzen sich hemmungslos auf dem Asphalt. Die blauen Arbeitsanzüge, Jeans und Anoraks sind mit Stroh ausgestopft, das aus Verschlüssen und Bünden quillt, und mit alten Rucksäcken, eingedellten Feldflaschen, allerlei Unrat und Plunder behängt. Einer der scheinbar Wahnsinnigen steht auf, packt eine am Straßenrand stehende junge Frau und setzt sie in eine klapprige Kinderchaise, um ein paar Runden zu drehen. Mitunter sollen solche Fahrten im Misthaufen ihr Ende gefunden haben. Kein Wunder, dass manche Passanten einen großen Bogen um den Auflauf machen. Es ist Fasnetsmontag und in Empfingen bei Horb sind die Ausgestopften, ganz wilde Kerle, unterwegs.

Sauigeln ist das größte Vergnügen der Ausgestopften. Fotos: NZ Empfingen

Fremde, die von den „schönen“ Narrenfiguren und den ritualisierten, choreografiegleichen Fasnachtsabläufen in Elzach, Rottweil, Schömberg und anderswo verwöhnt sind, werden irritiert sein. Denn bei dem, was an diesem Fasnachtsmontag vor ihren Augen abläuft, erinnern allenfalls noch die Saublasen, die die Ausgestopften mit sich führen, an die „schöne“ schwäbisch-alemannische Fasnacht.


Vom Aussterben bedroht?
Alljährlich finden sich unabhängig von der Empfinger Narrenzunft spontan mehrere Männer zusammen, die mit feisten Körpern als Ausgestopfte durch Straßen und Wirtschaften ziehen und Rabatz machen. „Ihre Zusammensetzung wechselt,“ erklärt Klaus Warnke, Brauchtumspfleger der Narrenzunft Empfingen. „Jeder Empfinger kann eigentlich als Ausgestopfter gehen.“ Die Fasnachtsfigur ist einfach herzustellen: alte Klamotten, Gerümpel, Heu oder Stroh – das ist alles. Doch es sind vor allem die Kameradschaften, wie die Altersjahrgänge in Empfingen genannt werden, die in diesem Lumpenkostüm auftreten.
„Kameradschaft hört sich militärisch an und der Begriff kommt wohl auch vom Ersten Weltkrieg her“, erzählt Klaus Warnke. Die Kameradschaften nennen sich „Lichtensteiner“, „Edelweiß“, „Jäger“, „Tiroler“ oder „Husaren“ – Namen, die es seit hundert Jahren gibt und die von Generation zu Generation weiterverkauft werden. Als Kaufpreis wird die Ausrichtung eines Festes durch die Jungen verlangt. Die Kameradschaften treffen sich bei der Heirat eines Jahrgängers, böllern bei Taufen, stellen beim Meisterabschluss eines Kameraden einen Baum auf. Und vor allem die jüngeren Jahrgänge gehen gern als Ausgestopfte zur Fasnet. Durch die Vermummung anonym, treiben sie bevorzugt mit jungen Frauen ihren Schabernack.
Ihr Auftritt ist am Fasnetsmontag und -dienstag. „Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass die Ausgestopften wie die Bettelgruppen an diesen Tagen erst ab zwölf Uhr auftauchen. Vormittags sind sie nicht zu sehen.“

Die Jahreshauptübung der Freiwilligen Feuerwehr Empfingen wurde früher traditionell am Fasnetsdienstag vor viel Publikum abgehalten. Dieses große öffentliche Ereignis war für die Ausgestopften oder Sauigel, wie sie auch genannt werden, bestens geeignet, um ihren Unsinn zu treiben. Heute hat es die Spezies „Ausgestopfte“ ungleich schwerer. Die Feuerwehrübung ist auf den Samstag verlegt und die wilde Jagd durch die Gastwirtschaften stark eingeschränkt. Von den alten Empfinger Beizen wie Löwe, Rössle, Adler, Hirsch, Bären oder Linde ist nur noch die Krone übrig geblieben. Und die soll demnächst abgerissen werden. Doch eine Gefahr für den Bestand der Ausgestopften sieht Klaus Warnke nicht, so lange sie durch „Pizzeria, Pfarrzentrum und Vereinsheime ziehen dürfen und ihnen manchmal sogar eine Wohnung oder Garage offen steht“.

Ein Kneller in Aktion. Foto Wolfgang Koch

Ausgestopft – dann tut’s nicht weh
Die Ausgestopften wirken wie eine moderne Fasnachtsfigur und gehören doch schon seit gut hundert Jahren zum Bild der Empfinger Fasnet. Wie die Gestalt entstanden ist, darüber kann selbst der Brauchtumspfleger der Narrenzunft nur spekulieren: „Es ist wohl die spontane Idee gewesen, aus alten Kleidern eine Fasnachtsfigur zu machen und lustig auszusehen. Das Freie, nicht fest Bestimmte hat ja auch seinen Reiz. Die Priorität bei den Ausgestopften liegt sicherlich beim Schabernack machen.“ Warnke hält nichts davon, diese Figur mit Gestalten wie dem Villinger Wuescht zu vergleichen: „Der Wuescht ist doch eher eine feine Gestalt. Wuescht und Ausgestopfte haben nur eine Gemeinsamkeit, nämlich die, dass sie beide die wilde Fasnacht charakterisieren sollen.“ Überhaupt will Warnke die Ausgestopften nicht überinterpretieren – etwa in dem Sinn, dass sie für die Völlerei der Fasnacht stehen. „Die Ausgestopften sind ausgestopft, damit sie plump aussehen und herumtollen können, ohne dass es weh tut. Und es ist ein billiges Mittel, sich zu verkleiden.“


Tracht und Vorhängle
Eine solche billige Verkleidung war Anfang des 20. Jahrhunderts für die Ausgestopften das Schaffhäs für Feld und Stall. Auch andere der vielen Empfinger Fasnetsfiguren – die meisten existierten bereits um 1900 – waren mit ausgedienter Kleidung vermaschkert. So trug das Bäuerle die alte Sonntagstracht der Männer und die alte Hexe Teile der Empfinger Frauentracht aus dem 19. Jahrhundert inklusive der schönen alten Radhauben. Ein durchsichtiges Tuch, oft ein Stück Gardinenstoff, verdeckte das Gesicht der Narren. Das Maskenzeitalter begann in Empfingen in den 1920er Jahren, als Handwerker Holzlarven aus anderen Städten und Dörfern mitbrachten. Ganz allmählich tauschten viele Narren ihre „Vorhängle“ gegen Holz-, Gaze- und später gegen Plastikmasken aus.


Zünftig schön ...
Dies alles geschah unorganisiert, bis 1951 die Narrenzunft Empfingen gegründet wurde. Sie machte es sich zur Aufgabe, den Umzug am Fasnetssonntag zu organisieren, die Fasnet zu pflegen und zu erhalten und die alte Empfinger Tracht den Narren zu entziehen. Denn das ungezügelte Fasnachtstreiben hatte Trachtenröcke, -jacken und -hosen zerschlissen und viele der empfindlichen Radhauben zerstört.

Die neu entstandene Zunft knöpfte sich den vielfältigen Bestand an Empfinger Narrenfiguren vor: Sie ordnete, übernahm, löste ab, formte um, vereinheitlichte und ließ neue Gewänder kreieren, um die wenigen noch erhaltenen Trachtenstücke vor dem Verschleiß durch die Narren zu retten. Sie machte aus dem Bäuerle das Oster-bachmännle, aus der alten Hexe die Original Empfinger Hexe. Das Schantle wurde als Weiß- und Schellnarr vereinheitlicht. Wie andere Zünfte fühlte sich auch die Empfinger Narrenzunft damals der schönen Seite der Fasnacht verpflichtet.

Ganz ohne Maske musste weiterhin der Kneller oder Butz auskommen – eine Empfinger Figur, die in der schwäbisch-alemannischen Fasnet ihresgleichen sucht. Sein Gesicht ist nicht verdeckt, er trägt lediglich eine Pappnase und rot gefärbte Wangen. Das Häs, in dem nur Männer stecken dürfen, besteht aus schwarzen Stiefeln, schwarzem Frauenrock, weißem, langem Hemd und Tüchern um Hüfte, Kopf und Schulter – früher ebenfalls Bestandteile der Frauentracht. Dazu kommt ein gut fünfzig Zentimeter hoher, glitzernder, bunt verzierter Knellerhut, der an eine gekrümmte Schultüte erinnert. Die Kneller, die aus der Empfinger Fuhrmannstradition entstanden sein sollen, wissen virtuos mit ihren langen Peitschen umzugehen: Im Gänsemarsch „knellen“ sie beim Umzug mit ihren „Goaßla“.
Über all diese Figuren hält heute die Narrenzunft schützend die Hand. Anders als in anderen Narrenorten, in denen die Häser in privaten Kleiderschränken hängen, gehören die Masken und Gewänder in Empfingen der Zunft.

Ein Kneller in Aktion. Foto Wolfgang Koch

... und unzünftig „drecket“
„Früher unterschied die Zunft stark zwischen der schönen und der ‚drecketen Fasnet‘, weiß Klaus Warnke. Figuren wie die Ausgestopften passten nicht zum schönen Sonntagsumzug. Ihnen gehörte die Straße an anderen Tagen. Da waren die Bützle, die sechs Wochen vor Fasnet jeden Nachmittag schreiend durch die Gassen rannten, hinter denen sich die Kinder des Ortes verbargen und die heute durch die Übermacht kleiner Cowboys und Harry Potters in ihrer Existenz bedroht sind; die ungelenken, massigen Bären, die über und über mit Stroh bedeckt von Kameradschaften am Fasnetsmontag und -dienstag auf die Straße geschickt wurden; die jungen Männer des Dorfes, die als Rußhexen am Rußigen Donnerstag pünktlich um zwölf Uhr ausströmten und die Gesichter der Passanten auf den Straßen mit Ruß beschmierten – auch heute noch. „Die Empfinger Fasnet ist derb und bäuerlich geprägt“, sagt Klaus Warnke.


Narrenschicksal
Inzwischen verstärken Milka-Gruppen, Coca-Cola-Frauen und Tamagotchies den Sonntagsumzug; sie verkörpern den Zeitgeist, andere machen auf das aktuelle Ortsgeschehen aufmerksam. Im Gespräch ist, ob nicht auch die Ausgestopften „zünftig“ werden sollen. Dadurch wäre ihr Bestand gesichert und sie dürften als vollwertige Narrengestalt auch auswärts bei Narrentreffen auftreten. Andererseits würde eine der letzten alten „wilden“ Empfinger Fasnachtsfiguren gezähmt und der zeitbedingten Veränderung entzogen, quasi musealisiert – Schicksal vieler Narrenfiguren.

www.narrenzunft-empfingen.de

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