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„Im Nationalkostüm kerniger Gebirgsbewohner“
Tiroler Elemente in der schwäbisch-alemannischen Fastnacht von Beate Falk
In der Fastnachtstradition verschiedener Orte Schwabens, Oberschwabens und der Schweiz sind vereinzelt Tiroler Elemente vertreten. So kommen beispielsweise in Grosselfingen unter dem Hohenzollern Tiroler Krämer als Narrenfiguren vor. Ihr blumengeschmückter Trachtenanzug und der umgehängte Bauchladen parodieren offensichtlich das Hausiergewerbe, das im 18. Jahrhundert dort unter anderem auch von Tirolern ausgeübt wurde. Im schweizerischen Unterägeri sind ebenfalls Tiroler mit dem heute charakteristischen Tirolerhut, einem weißen Hemd, Rollengurt und dreiviertellangen Hosen als eigenständige Fastnachtsfiguren bekannt. Dies gilt Werner Mezger zufolge auch noch für andere Orte in der katholischen Innerschweiz. In diesem Fall sollen Pilger aus Tirol, die Wallfahrten nach Einsiedeln unternommen, oder Tiroler, die sich als Knechte bei den Schweizer Bauern verdingt hatten, als folkloristisches Vorbild gedient haben. In Ravensburg wurden im Jahr 1832 zur Fastnacht in der Lokalzeitung Maskengarderoben angeboten, die neben Türken, Mohren und Zigeunern erstmals Tiroler offerierten. Was es mit diesen Tirolern auf sich hatte, offenbart jedoch erst eine weitere Zeitungsannonce aus dem Jahr 1844, in der diese Tiroler als „sogenannte Bletzler“ näher charakterisiert werden. Als im Jahr 1868/70 erneut ein privater Maskenverleiher, diesmal jedoch im benachbarten Altdorf-Weingarten, Harlekine, Bajazzos und Kaminfeger anbot, waren auch wieder die „so beliebten Bletzler“ darunter. Seit dieser Zeit hat sich offensichtlich die Figur eines ursprünglichen Tiroler Plätzlers in der Fastnacht von Altdorf-Weingarten fest etabliert, während dieselbe Figur in Ravensburg nicht dauerhaft Fuß fassen konnte.
Über die Frage, auf welchen Wegen und wann diese Tiroler Figuren Eingang in unsere Fastnacht gefunden haben, ist in letzter Zeit viel spekuliert worden. Es ist unbestreitbar, dass die Berührungspunkte mit Tirolern, vor allem in Oberschwaben und in der Schweiz, sehr eng waren. Steigende Bevölkerungszahlen zwangen nachgeborene Tiroler Bauernsöhne im 18. Jahrhundert vermehrt als Hausierhändler in Schwaben und in der Schweiz ihr Auskommen zu suchen. Sie traten auch in Ravensburg regelmäßig in bestimmten Gasthäusern in Erscheinung, wo sie beispielsweise im Jahr 1768 Lothringer Spitzen, Kaffee, Mandeln und Weinbeeren verkauften oder als Federtrager (Federhändler) unterwegs waren, während in Memmingen Tiroler und Tirolerinnen als Pflücker bei der Hopfenernte eingesetzt wurden. Nicht wenige Tiroler wanderten bereits seit dem 17. Jahrhundert als Krautschneider und Kornmähder durch das südliche Oberschwaben und gelangten dabei bis weit über die Schwäbische Alb. Auch Tiroler Bergbauernkinder fanden seit dem späten 18. Jahrhundert bei den oberschwäbischen Bauern Saisonarbeitsplätze als so genannte Hütekinder.
Nationalbewusstsein wirkt sich aus Es sind vielmehr die veränderten politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse des beginnenden 19. Jahrhunderts, die die Integration neuer Elemente wie die Tirolerfiguren in die Fastnacht ermöglicht haben. Der große Tiroler Volksaufstand gegen die napoleonisch/bayerische Besetzung im Jahr 1809, der sich anschließende Russlandfeldzug Napoleons und seiner Verbündeten, die nachfolgenden Napoleonischen Befreiungskriege und vor allem die Befreiung Polens, Belgiens und Griechenlands ließen zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Nationalbewusstsein entstehen, das es in dieser Ausprägung vorher so nie gegeben hatte. Daher verwundert es nicht, wenn seit den 1830er Jahren in der Fastnacht erstmals vermehrt Kostüme fremder Nationen in Erscheinung treten, bei denen es sich unter anderem um Russen, Griechen und Kosaken handelt, aber auch um Schweizer, Bayern und Tiroler „im Nationalkostüm, wie sie bei kernigen Gebirgsbewohnern vorkommen.“ Bei diesen Kostümen handelte es sich ausschließlich um Zillertaler Trachten, in denen Bauernhochzeiten mit „prachtvoll gekleideten Tyrolern und Tyrolerinnen“, Schützenfeste mit „Tyroler Schützen“ und Spinnstubenidyllen dargestellt wurden. Im Jahr 1859 traten im Gasthof „Zum Lamm“ in Ravensburg zur Fastnacht Mitglieder des Bürgermuseums als Tiroler Schnitter und Schnitterinnen, Gärtner und Winzer auf, wobei auch zwei Alpenführer in alpenländisch/Tiroler Tracht nicht fehlten, die eine englische Familie auf einer Bade- und Alpenreise begleiteten.
Ideal des unverbildeten Naturmenschen Diese romantisch-ländlichen Idyllen, an denen sich zur Fastnachtszeit im 19. Jahrhundert hauptsächlich Stadtbewohner delektierten, wurden zuweilen sogar mit historischen Szenen aus der Stadt- und Landesgeschichte kombiniert. So war nicht nur der so genannte Hütekindermarkt im 19. Jahrhundert in Ravensburg ein überaus beliebtes Fastnachtsthema, auch die szenische Einkehr der Schützen beim Sandwirt Andreas Hofer, der als Anführer des Tiroler Aufstands und Volksheld rasch zu einer legendären Gestalt geworden war, durfte dabei nicht fehlen. Neben den vorerwähnten Russen und Griechen waren die in der Fastnacht dargestellten Bayern, Schweizer und Tiroler jedoch weniger als Nation zu begreifen; sie sollten vielmehr den urtümlichen und kernigen Alpenbewohner verkörpern, der im Geist der Romantik den Idealtypus des unverbildeten, ursprünglichen Naturmenschen widerspiegelte.
Während der im 19. Jahrhundert neu in den Fastnachtskanon aufgenommene Tiroler Plätzler heute in Weingarten, wenn auch in stark veränderter Form, in der Plätzlerzunft Altdorf-Weingarten 1348 e. V. fortlebt, ist in Ravensburg seit 1900 ein weiteres Tiroler Element in der Fastnacht abgegangen: Auf den fastnächtlichen Heischegängen durch die Stadt, bei denen die Ravensburger Kinder Süßigkeiten erbettelten, wurde einst ein Andreas-Hofer-Lied gesungen. Das Beispiel Altdorf-Weingarten und Ravensburg zeigt, dass die überaus starke, in der Romantik des 19. Jahrhunderts begründete Tiroler-Affinität mehr Spuren in der Fastnacht – und nicht nur hier – hinterlassen hat, als uns auf den ersten Blick bewusst ist. Es lohnt sich daher, scheinbar altbekannte Figurengruppen und Bräuche vor diesem Hintergrund zu hinterfragen und gegebenenfalls neu zu interpretieren. |
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