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Brezelsegen und Bonbonschlachten
In vielen Fastnachtsbräuchen spiegeln sich die Reste des Schlaraffenlandes Von Günther Schenk Tausende von Brezeln verteilen die Narren im Schwarzwald-Städtchen Schramberg Jahr für Jahr zu Fastnacht, nicht viel weniger die in Oberndorf am Neckar. Riesige Mengen Würste bringen die Narren im Donau-Städtchen Geisingen am Fastnachtsdonnerstag unters Volk. Gleich tonnenweise werfen die Jecken in den rheinischen Metropolen am Rosenmontag Süßigkeiten aus. Und im belgischen Binche bombardieren sich ebenso wie im italienischen Ivrea die Narren zum Fest mit vielen Zentnern Orangen. Feste der Verschwendung scheinen das zu sein, sichtbarer Ausdruck einer Überflussgesellschaft, die einmal im Jahr ihr Volk beschert. Ganz kollektiv, nicht individuell wie zum Geburtstag oder zu Weihnachten. Bräuche jedenfalls, deren Herkunft tief ins Mittelalter reicht. Schon von Anfang an war die Fastnacht mit großen Gelagen und Völlerei verbunden, war sie doch die letzte Gelegenheit, vor der sich anschließenden Fastenzeit noch einmal richtig zuzulangen. Fressen und Saufen gehörten zum Karneval wie die Eier zu Ostern. Große Tafeln gab es zum Fest vor allem bei den Zünften, die größten bei Metzgern und Bierbrauern, die an den tollen Tagen besonders gute Geschäfte machten. Nach der Reform der Fastnacht in Köln traten Karnevalsgesellschaften ihr närrisches Erbe an. Und mit ihnen die Garden, die sich in der Tradition reichsstädtischer Bürgerwehren als Schutztruppe des neuen Prinzen Carneval verstanden. Prinz Carneval aber war, kulturhistorisch genauer betrachtet, der gesittete Nachfolger des Herrn Fastnacht, der als Gegenspieler der Frau Fasten alles Fleischliche verkörperte und als Hans-Wurst schließlich auch den Weg ins Theater fand. Kein Wunder, dass sich die Garden an den Tagen vor Aschermittwoch ihm besonders verpflichtet fühlten und in ihren Lagern Fleisch und Würste gleich bergeweise aufhäuften. 1863 etwa berichtete ein Chronist aus Mainz von „dampfenden Kesseln, Thürmen von Brodringen, Schinken sowie ungeheuren Batterien von Zweipfünder-Flaschen.“ Schweine, Hammel oder Ochsen drehten sich an Bratspießen in den Lagern der Garden, zunächst am Rhein, später aber auch anderswo.
Zäune aus Würsten, Ziegel aus Fladen Hinter all den öffentlichen Schlemmer-Paradiesen, die in immer neuen Variationen Gestalt gewannen, steckte die Vorstellung vom grenzenlosen Honigkuchenland, das als Schlaraffenland schließlich weltberühmt wurde. Sprichwörtlich bekannt für die gebratenen Tauben, die dort jedem in den Mund flogen. Einem Reich des Seins, der ewigen Gegenwart, in dem niemand nach dem Wie und Warum fragte. Im späten Mittelalter hatte es Gestalt gewonnen, als europäische Schriftsteller das Reich des Überflusses wortreich skizzierten, es als ein Land mit Zäunen aus Würsten, Fenstern und Türen aus Lachs oder Stör beschrieben. Mit Brettern aus Pfefferkuchen, Bänken aus Ravioli, Latten aus Aal und Ziegeln aus Fladen. „Durch dieses Land“, heißt es in einer mittelhochdeutschen Beschreibung, „strömt ein Fluss aus goldenem Wein und Bier ... Jeder darf dort trinken, ohne zu zahlen, ob er Bier, Wein oder Most will.“ Viermal Ostern Im Schlaraffenland war die Zeit aufgehoben, galt der ewige Sommer. „Jeder Monat zählt fünf Wochen, und es gibt viermal Ostern im Jahr und vier Pfingsten, das ist wahr, und vier Weihnachtstage und einmal Fasten in hundert Jahren“, beschrieben die Literaten das Paradies. 1494 hatte sich eine Handvoll Narren in Sebastian Brants „Narrenschiff“, einem der frühneuzeitlichen Buch-Bestseller, dorthin auf den Weg gemacht. „Ein Bach führt Milch, ein anderer Wein. Von hohen Bäumen fallen da hinein Semmeln, Wecken und auch Brot, dazu was sonst noch nötig ist. Aus warmen Kuchen bestehen die Dächer, nicht hoch, das kommt uns gelegen. Wenn wir die essen, bringt das nicht Schaden, ein anderer Fladen wächst halt nach“, beschrieb Brant sein Schlaraffenland. Fastnachtsspiele Auch Hans Sachs, den populären Nürnberger Volksdichter, hatte es beeindruckt. 1530 erschien „Das Schlaweraffenland“ als Schwank. „Wer ein Nichtsnutz ist, nichts lernen will, der kommt im Land zu großen Ehren; denn wird einer als der trägste anerkannt, so wird er König des Reiches.“ Texte, die in Erhard Schöns Holzschnitt „Schlaraffenland“ schließlich Gestalt annahmen. Einen Wein spendenden Brunnen zeigen sie, Zäune aus Bratwürsten, daneben ein riesiges Lebkuchenhaus. Pferde legen Eier und im Bach schwimmen die Fische schon gebraten. Wenig später malte Pieter Bruegel der Ältere sein Bild vom Schlaraffenland, das heute in der Münchner Alten Pinakothek hängt. Drei vollgefressene Faulenzer präsentieren sich dort im Schlemmerparadies zwischen Milchseen und Breibergen. „Wer ein Nichtsnutz ist, nichts lernen will, der kommt im Land zu großen Ehren; denn wird einer als der trägste anerkannt, so wird er König des Reiches.“ Hans Sachs, „Das Schlaweraffenland“
Hans Sachs, der Meistersinger, prägte unser Bild vom Schlaraffenland entscheidend. Vor seinen Toren platzierte er einen Berg aus Hirsebrei, Anspielung auf die damals üblichen Mahlzeiten aus Brei. Erst wer die hinter sich ließ, machte der Dichter jedem Leser so schmackhaft, fand Eingang in die neue kulinarische Welt, wo jedes Haus seine eigene Weinquelle hatte und Gärten, in denen Pfannkuchen und Speck wuchsen. Bei Hagel flogen Zuckererbsen vom Himmel, bei Regen süße Sahne. Jeder mit jedem, „ohne Hass oder Missgunst“, hieß das Motto für Männer und Frauen, Sex ohne Grenzen. Auch das gehörte zum Schlaraffenland, in dem Geld keinen Wert mehr hatte, in dem die größten Lügen- und Trunkenbolde am besten angesehen waren. Schließlich aber war es der Karneval, in dem das Schlaraffenland reale Gestalt annehmen sollte. „Drei Meilen hinter Weihnachten“ hatte es Sachs lokalisiert. „Das Schlaraffenland ist der Traum eines nie endenden Karnevals und der Karneval ist ein zeitlich begrenztes Schlaraffenland, mit der gleichen Betonung der Schlemmerei und der Umkehrung normaler Verhältnisse“, analysierten Wissenschaftler die Beziehung zwischen beiden. So türmten sich in Bologna oder Rom an den Karnevalstagen Fleisch und Würste zu hohen Bergen. Und in Neapel entwickelte sich aus einfachen Fastnachtsumzügen die „Cucagna Napoletana“. Ein Fest der Völlerei, das sich gleich über alle vier Sonntage vor Aschermittwoch dehnte. Am ersten war der Brotwagen unterwegs, dann der Fleischwagen, der auch mit Obst und Gemüse beladen war. Am dritten folgte der Wagen der Jagd, bestückt mit Geflügel und Wurst, sonntags drauf der Fischwagen. Aus Sicherheitsgründen wurden die Umzüge schließlich durch ein Fest vor dem königlichen Palast ersetzt, wo man Tempel voller Würste und Fleisch errichtet hatte. Dazu floss Wein aus künstlichen Brunnen. Eine Woche lang stand das Schlemmerparadies zur Schau, ehe es zur Plünderung freigegeben wurde. Und während das einfache Volk sich ums Essen prügelte, amüsierten sich König und Adel auf dem Balkon über den hungrigen Mob. Jahrzehnte ging das so, bis die Veranstaltung immer mehr ausartete und der König das närrische Fressfest absetzte. Im wahrsten Wortsinn abgespeckt aber überlebte es als Brauch zur Kirchweihe. So werden heute zur Kirmes in vielen Gemeinden noch immer große, mit Schinken, Wein und Brot behängte Bäume aufgestellt, die schließlich zur Plünderung freigegeben werden. Was oft wie eine Gaudi für die Dorfjugend aussieht, ist genau betrachtet der letzte Rest der neapoletanischen Cucagna.
Tonnenweise Bonbons und Schokolade Auch in den närrischen Feldlagern, wie sie Mitte vorletzten Jahrhunderts die Helfer König Karnevals überall in Deutschland aufschlugen, hatte die Idee vom Schlaraffenland zunächst weitergelebt. Mit zunehmender Industrialisierung freilich, in deren Folge für Müßiggang kein Platz mehr war, verlor das Schlaraffenland an Ansehen, verkam zur romantischen Märchen-Kulisse. Literarische Vordenker wie die Brüder Grimm oder Ludwig Bechstein interpretierten die närrische Gegenwelt schließlich neu, machten aus dem Reich der sorglosen Säufer und frechen Fresser moderne Freizeitparks, in denen die Fleißigen als neue Helden reüssierten. Ordnung und Sauberkeit wurden propagiert, für Sex war in den neuen Schlaraffenländern kein Platz mehr. Die Reiche der fressenden und furzenden Anarchisten verkamen zum Disneyland, zum klinisch sauberen Kindertraum. Ähnlich erging es der Fastnacht. Ochsen am Spieß und Wein aus Brunnen, reale Bilder aus der närrischen Welt des 19. und frühen 20.Jahrhunderts sind im Karneval rar geworden. Dafür fliegen Bonbons und Schokolade gleich tonnenweise unters närrische Volk. Gaben für die Kinder, denen man das Fest so versüßen will. Brezel und Würste, Wein und Bier, die an Fastnacht immer weniger verteilt werden, sind nur matte Erinnerung an karnevalistische Gegenwelten, müde Reste des einstigen Schlaraffenlandes. |
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