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Guten Morgen, ihr Brüder
Verkehrte Welt in Grosselfingen, dem "Venezianischen Reich"
von Wulf Wager
Während manche – vor allem die neuen – Narrenzünfte bis zu drei Mal an einem Wochenende in der Vorfastnachtszeit an Narrentreffen und Nachtumzügen teilnehmen, gibt es auch wirkliche Traditionen, die den Protagonisten große Pausen und lange Fasnetsenthaltsamkeit verordnen. In Grosselfingen, einem kleinen hohenzollerischen Ort in der Nähe von Hechingen, hält man sich zurück.
Nur alle fünf Jahre tagt dort das Ehrsame Narrengericht. Dann aber verwandeln die Protagonisten das Dorf in ihrem Fastnachtsschauspiel in ein „Venezianisches Reich“ mit eigener Obrigkeit und eigenen Gesetzen – und das gesichert schon seit über vier Jahrhunderten. Gäste erhalten Pässe in Spiegelschrift, Brunnen brennen und am Nachmittag grüßt man sich mit „Guten Morgen, ihr Brüder“. Verkehrte Welt.
Nur Männer
Rund 350 Männer, Kinder und Jugendliche sind am Spiel der Bruderschaft des Ehrsamen Narrengerichts zu Grosselfingen beteiligt. Kein Wunder, denn alle Männer des Dorfes sind automatisch Mitglied der Bruderschaft. Die Eintragung als Verein wurde dem Narrengericht übrigens versagt. Das Finanzamt begründete die Ablehnung mit der im Grundgesetz verankerten Gleichstellung von Mann und Frau, die einen Ausschluss von Frauen in Vereinen nicht zulässt. 40 männliche Kostümgruppen, sogenannte Chargen, müssen besetzt werden, darunter Geiger, Wegräumer, Edelknaben, Butzen, Korporale, Gärtner, Husaren, Furiere, Stallmeister, Fahnenschmied, Zimmermann, Bergknappe, Profose, Jäger und Schützen. Die kleinsten, fünf- bis neun-jährigen Buben sind die Pagen, die ältesten beteiligen sich hochbetagt am Spiel in ruhigeren Rollen.
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Eindrucksvoll sind die Grosselfinger
Butzen verziert. Foto: Wulf Wager
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Mit venezianischem Gruß
Um die Mittagszeit treffen sich alle Chargen auf dem Marktplatz. Dort sind bereits die Gassenrollen, also die Hanswurste, die Geiger und die Wegräumer im vollen Einsatz und machen allerhand Narrheiten. Sie sind darin schon gut geübt, denn am Tag vorher beim sogenannten Rombalga haben sie die Bewohner Grosselfingens schon zum Spiel eingeladen und ihren Schabernack getrieben. Doch dann machen die Geißelläufer, weiß gekleidete, mit bunten Bändern geschmückte Männer mit ihren Peitschen den Weg frei für das archaische Spiel des Ehrsamen Narrengerichtes, das sich den ganzen Nachmittag durch die kleine Gemeinde zieht. Auf dem Kopf tragen sie eine Schappel, die sowohl vom Namen als auch vom Aussehen an den Hochzeitskopfputz der schwäbischen Frauentrachten erinnert. Der Umzug stellt sich auf und macht sich auf den Weg. Es gilt einige Hauptfiguren zu Hause abzuholen.
An den Spieltagen verwandelt sich der Flecken in das „Venezianische Reich“, wie die Initialen H.v.V. (Herren von Venedig) auf den Kostümen der Spieler nachhaltig verdeutlichen. Herrscher über das Reich ist der Narrenvogt, der im Laufe des Spiels mit einem Umzug von der ganzen Bruderschaft zu Hause abgeholt wird und am Ende des Spiels auch wieder zu Hause abgeliefert wird. „Guten Morgen, ihr Brüder“ ist der sehnsüchtig erwartete venezianische Gruß des Narrenvogtes, wenn er auf die kleine Bühne vor seinem Haus tritt und zu seinen Untertanen spricht. Aus Hunderten von rauen Kehlen röhrt dröhnend die Erwiderung in guturalem Schwäbisch: „Guada Morrga!“ Obwohl Nachmittag, gilt der Morgengruß den ganzen Tag. Auch hier verkehrte Welt.
Vor dem Gruß des Vogtes haben die Gassenrollen den „Saustall“ des Vogtes gemistet und allerhand Unrat, wie Bettgeschirr, alte Bettflaschen und den Christbaum, zur Erheiterung des Publikums aus dem Fenster geworfen. Auf den ebenfalls durchs Fenster entsorgten Matratzen räkeln sich die Geiger und Wegräumer und lassen deftige Sprüche gegen die Besucher erschallen.
Vom Haus des Vogtes geht’s auf den Marktplatz. Am Rande des Umzugs sind die Gassenrollen, die Hanswurste, die Wegräumer und die Geiger immer zu Späßen aufgelegt. „Du bisch a schee’s Mädle, drum will i dir eis singa. Kunnt aber a Scheenre, lass i di wieder springa“, singt ein Geiger einer wohlbeleibten Passantin ins Ohr. Wegräumer rollen alte Ölfässer mit infernalischem Lärm durch die Gassen und das Butzenrössle jagt Passantinnen.
Durchblick mit gläserloser Brille
Der Narrenvogt ist der wichtigste Mann in Grosselfingen. Den Durchblick bekommt er durch die gläserlose Brille, die zu seinem Amt gehört und später seinem kommunalen Gegenpart, dem Bürgermeister, die Augen öffnen wird. Verkehrte Welt. Selbst der Pfarrer kocht für die hungrigen Narren einen großen Topf mit Sauerkraut und Sauschwänzle, der von den Hanswursten und Butzen abgeholt und mit großem Gehabe und deftigen Sprüchen durch das Dorf geführt wird. Aber auch hier ist das „Ausmisten“ vorangestellt; Allerhand Unrat fliegt aus dem Pfarrhaus, selbst Damenfeinstrumpfhosen und ein überdimensionaler Büstenhalter. Das Pfarrhaus wird gründlich auf den Kopf gestellt. Dann lesen die Geiger in musikalischer Form dem Geistlichen die Leviten: „Wenn eiser Pater feif, sechs Bier trenkt, no fangat seine Auga a glitza. Des ischt aber it schlemm, no hot ’r halt oan sitza.“ Die schwarz gewandeten Butzen und die immer zu Späßen aufgelegten Gassenrollen dürfen sich später über den Krauthaufen mit den Sauschwänzle hermachen. Natürlich nicht, ohne dass der „Doktor“ den Schmaus mittels eines Fernrohres gründlichst untersucht und für gut befunden hat. Für den Krauthafen erhält die Pfarrhaushälterin von einem Jungen in der Rolle eines Metzgers einen Kuss. Anschließend wird der Krauthafen auf einer Bahre unter dem Jubel der Besucher und den fortwährenden kessen Sprüchen der Hanswurste und Geiger durch das Dorf getragen und von den Akteuren im Gasthaus Ochsen verzehrt. Die Hanswurste können es aber offenundig nicht erwarten und futtern schon auf dem Weg dorthin von den leckeren Sauschwänzle.
Das ist nur eine von vielen Szenen, die im ganzen Ort zum Teil parallel gespielt werden. Der Handlungsstrang des Grosselfinger Narrenstückes verbindet etliche szenische Darstellungen, mehrere Umzüge, die Aufführungen von überlieferten, archaisch anmutenden Liedern und Tänzen sowie die Gerichtsverhandlung und als Höhepunkt das Sommervogelspiel auf dem Marktplatz miteinander.
"... Narren gibt es überall!"
Der Umzug ist wieder auf dem Marktplatz angekommen. Nun verkündet der Platzmajor die Reichsordnung
des „Venezianischen Reiches“. Der Wunsch des venedischen Adels sei es, so der Platzmajor beim Verlesen des siebten Paragrafen, dass sich während der Fastnacht einer mit einer alten Armen Witwe verheiraten solle, wenn er eine reiche, junge Person bekommen kann. Auch solle sich einer eines Ochsen zum Reiten bedienen, wenn er Pferde hat. Auch hier verkehrte Welt. Die Gassenrollen kommentieren diesen Paragrafen mit lauten Zwischenrufen. Verstößt einer gegen die Reichsordnung, so der letzte Paragraf, dann wird er in einen Turm gesperrt, der „innen hohl ist, eine Tür ohne Schloss hat und dessen Wände aus Luft gebaut sind“. Närrischer Unsinn in der verkehrten Welt. Höhepunkt dieses Vorspiels ist das gemeinsame Singen des Bruderschaftsliedes. Das endet mit der Erkenntnis „... Narren gibt es überall!“ Die Ankunft des Sommervogels wird verkündet und im sogenannten „Badverruf“ wird die Strafe für das Stehlen bekannt gegeben.
Gleich darauf sorgen die Tiroler mit ihren mehrstimmigen Gesängen auf dem Marktplatz für Unterhaltung. Auch die Butzen und die weiß gekleideten Stabläufer tanzen als Gegensatzpaar den „Rutschin“, einen alten Volkstanz, der seinen Namen vom dazugehörigen Tanzlied hat: „Rutsch hin, rutsch her, rutsch zu der Magd ins Fedrabett. Zu dr Magd lieg i net, sie hot mr z’ viel Flöh im Bett.“
Vollstreckung auf der Pritschenbank
Gleichzeitig dazu hat sich das Ehrsame Narrengericht mit den Magistraten, dem Narrenvogt, den Majoren und Doktoren in den völlig abgedunkelten Raum des ehemaligen Rathauses zurückgezogen, um über die närrischen Verfehlungen mehr oder weniger prominenter Mitmenschen zu urteilen. Die Delinquenten werden mit einem Seidenfaden gebunden und von den Husaren vor das ehrwürdige Gericht gestellt.
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Auf der Pritschenbank werden nach dem Badverruf die Pritschen schon mal an den Wegräumern und
Hanswursten ausprobiert. Foto: Wulf Wager
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Nur von Kerzenlicht und vom närrischen Geist erhellt, fällen die Richter unter dem Vorsitz des Narrenvogtes ihre strengen Urteile. Doch zuvor werden die Angeklagten von den Doktoren auf ihren Geisteszustand untersucht. Für so manchen Patienten kommen von den Doktoren verblüffende Ergebnisse: „Staubansammlung am linken Herzen wandert ununterbrochen zum Gehirn. So weist der Geisteszustand nur noch Schatten auf!“ Vollstreckt werden die Urteile auf dem Marktplatz durch die Hanswurste. Auf einer Pritschenbank müssen sich die Delinquenten verantworten, doch – wieder verkehrte Welt – die Schläge bekommen nicht die Verurteilten, sondern die Gassenrollen, quasi als Prügelknaben. Dann aber geht’s den Verurteilten doch noch an den Kragen. Sie werden mit viel Schaum rasiert.
Wassertod für die Täublesstehler
Schließlich schlägt die Stunde des heimlichen Helden, denn auf dem Marktplatz hält der Sommervogel in Gestalt einer weißen Taube Einzug. Das Sommervogelspiel oder „Täublesstehlen“ beginnt. Der Sommervogel, eine weiße Taube – aus Grosselfinger Sicht das Symbol des Frühlings – wird von zwei unverheirateten jungen Männern bewacht. Nun steigt der Gemeindebürgermeister, der „Gemeindevogt“, ins Spiel ein. Er verwechselt den Sommervogel mit allen möglichen Vogelarten und streitet seine Echtheit ab. Erst beim Blick durch die gläserlose „Narrenbrille“ erkennt er seinen Irrtum. Verkehrte Welt.
Der gesamte Umzug defiliert nun am Sommervogel vorbei und huldigt ihm durch eine tiefe Verbeugung. Während der Huldigung des Sommervogels durch den Narrenzug werden die Bewacher des Vogels durch einen Trunk abgelenkt. So können zwei Räuber den Sommervogel stehlen. Mitten in die Festfreude platzt die Hiobsbotschaft vom Raub des Sommervogels. Darauf setzt großes Wehklagen ein. Mit einem großen Durcheinander auf dem Marktplatz beginnt die wilde Jagd nach den Dieben. Mit Gewehrschüssen werden die Räuber verfolgt, von den Gassenrollen gefasst und durch die Profose vor das Gericht gestellt. Unter freiem Himmel wird über sie gerichtet: Die Diebe werden zum „Wassertod“ verurteilt. Der Narrenvogt bricht den Stab über den beiden Missetäter und verkündet den Sieg des Guten über das Böse. So wird ihnen die Milde des „Venezianischen Reichs“ zuteil. Denn statt am Galgen aufgeknüpft zu werden, wirft man sie in den Brunnen und eine große Wasserschlacht beginnt. Ein feuchtfröhliches Spektakel mit ernstem Hintergrund. Denn im Mittelalter war der Brunnen ein wichtiger Ort der Strafe. Er galt gar als Vorhof zur Hölle, weshalb die Bäder, ebenfalls eine Charge, den Brunnen mit schwimmendem Stroh zum Brennen bringen. Auch hier die verkehrte närrische Welt. Dem geretteten Sommervogel jedoch verschafft der Narrenvogt die Freiheit: „Das Gute hat gesiegt, das Böse ist gerichtet. Der Sommervogel fliege frei und bringe uns den Frühling herbei!“ Mit einem letzten Umzug werden Narrenvogt und Fähnrich wieder nach Hause gebracht. Bis zum Einbruch der Dunkelheit muss jeder Mitspieler sein Kostüm wieder abgelegt haben. Der Abend wird mit einer geselligen Zusammenkunft, dem sogenannten Narrentanz, beschlossen.
Marianische Bruderschaft 1623
Zweimal wird das Spiel aufgeführt. Am Sonntag vor Fastnacht und am Schmotzigen Donnerstag. Beide Tage beginnen mit einem Gottesdienst. Am Schmotzigen Donnerstag kommt noch ein Seelenamt für die verstorbenen Brüder hinzu. Der Träger des Grosselfinger Narrenspiels, die Bruderschaft des Ehrsamen Narrengerichts, wurde 1623 als marianische Bruderschaft gegründet. Allerdings scheint das Narrengericht schon bei der Bruderschaftsgründung eine lange Tradition auf dem Buckel gehabt zu haben. Sachkundige ver-
muten den Ursprung des Spiels gut 200 Jahre vorher. Die Bruderschaft selbst beruft sich auf das Jahr 1439.
Das Ehrsame Grosselfinger Narrengericht ist wohl der am besten dokumentierte Fastnachtsbrauch im Land. Im Jahr 1728 wurde das Narrengerichtsbuch gebunden, die erste erhaltene schriftliche Niederlegung zum Narrengerichtsspiel selbst. Dort werden die närrischen Bestimmungen des Narrengerichts, die einzelnen Rollen und Spielteile sowie alle Aufführungen seither beschrieben. Erst vor wenigen Jahren ist das Gründungsprotokoll der Bruderschaft im Staatsarchiv in Sigmaringen wieder aufgetaucht. Noch im 19. Jahrhundert drohte das Spiel in Vergessenheit zu geraten. Es gab eine fast dreißigjährige Spielpause. Doch im Zuge der Neuerstarkung des Karnevals und der Fastnacht besann man sich rechtzeitig, bevor das Spiel verloren gehen konnte, auf die Tradition und gab der Bruderschaft 1858 völlig neue Statuten.
Übrigens:
Verkleidet sind bei diesem Spiel nur die Spieler, niemals die Zuschauer. Daran sollte man sich besser halten, wenn man Grosselfingen besucht. Ansonsten könnte es sein, dass man sich selbst im Brunnen wiederfindet ...
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