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Alte Fastnacht, junge Fastnacht Fastnacht zwischen Tradition und Moderne von Peter Haller Nachdem in dieser Zeitschrift schon wiederholt vor allem auf die negativen Begleiterscheinungen der aktuellen Fastnachtsentwicklung eingegangen wurde, so da sind Vermassung, Uniformierung, Fasnetstourismus, übermäßige Medienpräsenz und Verarmung der unorganisierten Fastnacht, sollen hier nun auch mal andere Aspekte zur Sprache kommen. Grundsätzlich ist es gerade heutzutage wichtig, alte Traditionen zu pflegen und auch für künftige Generationen zu bewahren. Denn allzu viel ist in den vergangenen Jahrzehnten, insbesondere seit dem Zweiten Weltkrieg, nicht nur an Brauchtum, sondern auch allgemein an Werten, an Heimat und Überliefertem verloren gegangen. Anderes lebt nur noch folkloristisch verwässert weiter, so dass wir alles daran setzen sollten, das Wenige, was noch ursprünglich erhalten geblieben ist, zu retten. Die Fastnacht allerdings boomt. Die alten Fastnachten wie die neuen. Ein Phänomen, das dem modernen Wunsch nach „immer weiter, höher, schneller“ irgendwie zuwiderlaufen zu scheint. Offensichtlich treibt die Menschen in einer globalisierten Welt auch eine Sehnsucht nach Bodenständigkeit, lokaler Identität und Beständigkeit um. Was in unseren Städten an altem Baubestand nicht im Krieg zerstört wurde, das hat die allgemeine Modernisierungswut – einhergehend mit einer fortschreitenden Landschaftszersiedelung – in den vergangenen Jahrzehnten vielerorts hinweggefegt. Und auch auf den Dörfern wurde oftmals ganze Arbeit geleistet. Altes zu erhalten gilt und galt als rückwärtsgewandt, „historisierend“ wurde unter Städteplanern und Architekten zum Schimpfwort. Ohne Einfühlungsvermögen und Sinn für den ursprünglich harmonischen Gesamteindruck von gewachsenen Straßen, Plätzen und Häuserfronten wurden durch neue, „moderne“ bzw. „postmoderne“, oft aufgesetzte, wie Fremdkörper wirkende Einbauten aus Beton, Glas und Stahl ganze Straßenzüge in ihrem Erscheinungsbild zugrunde gerichtet oder zumindest erheblich beeinträchtigt. Altes Inventar galt bei vielen Leuten plötzlich als „altes Glump“ und landete auf dem Sperrmüll, wenn es nicht noch rechtzeitig von irgendjemand gerettet werden konnte, um es auf dem nächsten Flohmarkt für viel Geld an einen dieser „verrückten“ Sammler zu verkaufen. Der heilige Nikolaus wurde durch den Coca-Cola-Weihnachtsmann in den Corporate-Design-Farben des Limonadeherstellers, Rot und Weiß, ersetzt. Tradition und Brauchtum sind vielerorts auf dem Rückzug, fristen oft nur noch ein Nischendasein oder werden ins Bauernhausmuseum verbannt.
Um so erstaunlicher mag es da anmuten, dass gerade in diesen „modernen Zeiten“ und in diesem gesellschaftlichen Umfeld die Fastnacht solchen Zulauf hatte und hat und ein Fastnachtsbrauch als um so wertvoller eingestuft wurde, je älter er war. Tradition wurde dabei unter Narren zum viel gebrauchten und missbrauchten Schlagwort, das oft nur noch wie eine Worthülse ohne Inhalt wirkte. Denn dort, wo die Fastnacht keine Tradition hatte, da wurde diesem als Makel empfundenen Umstand kurzerhand abgeholfen, indem man irgendwelche zweifelhaften Urkunden hervorzauberte, die das Alter der eigenen Fastnacht belegen sollten. Aber auch die neu geschaffene Sagengestalt galt nun als „historisch“. Doch warum, so muss man sich fragen, soll ausschließlich das, was nachweislich Jahrhunderte zurückdatierbar ist, einen kulturellen Wert darstellen, das Neugeschaffene jedoch nicht? Jede Tradition und jeder Brauch haben irgendwann ihren Anfang genommen. Auch das, was heute entsteht, muss nicht grundsätzlich und a priori schlechter sein als das Altüberlieferte und wird unter Umständen in 100 Jahren von unseren Nachkommen ebenfalls als kostbares Erbe angesehen werden. Es ist wohl eher eine Frage der Qualität als des Alters. Und eine Frage der Wahrnehmung. Was interessiert und begeistert uns mehr, die historische Altstadt und das Renaissanceschloss, die bereits an der Autobahn als besondere Attraktion angekündigt werden, oder sterile Zweck- und Industriebauten? So erleben wir eben mehr oder weniger regelmäßig Altes als ansprechender und wertvoller als Zeitgenössisches. Und gerade die alten Fastnachten haben eben äußerst faszinierende, qualitätvolle Narrentypen hervorgebracht, sind der Stolz ihrer Stadt wie das historische Stadtbild selbst, so dass „alt“ bzw. „historisch“ automatisch mit „wertvoll“ und „erhaltenswert“ gleichgesetzt wurde. Da aber jede Fastnacht „wertvoll“ sein wollte, machte jede auf „historisch“. Wer noch älter und noch wertvoller sein wollte, nannte sich „althistorisch“. Kreation Sicherlich sind bekannte Fastnachtshochburgen wie Rottweil, Villingen oder Wolfach, um nur einige Beispiele zu nennen, mit ihren sehr alten Fastnachten und einmaligen Narrenfiguren auch heute noch die Aushängeschilder der schwäbisch-alemannischen Fastnacht. Kunstvoll bemalte Kleidle und quali-tativ hochwertige Larven wie die vom Rottweiler Gschell oder Biß oder vom „aristokratischen“ Villinger Narro oder die barock anmutenden Schömberger Fransenkleidle sind nach wie vor die herausragenden Schöpfungen dieses Kulturguts Fastnacht. Nichtsdestotrotz muss man andererseits festellen, dass die Fastnacht wohl noch nie zuvor im deutschen Südwesten so flächendeckend und in einer solchen Vielfalt gestaltet und gefeiert wurde, wie dies heutzutage der Fall ist. Was vor Jahrzehnten entworfen und ins Leben gerufen wurde, hat sich heute vielerorts fest etabliert und ist aus dem lokalen närrischen Treiben und kulturellen Leben oft nicht mehr wegzudenken. Wenngleich auch von jungen Vereinen vielfach überlieferte Brauchformen, Narrenattribute und -utensilien übernommen, Kritiker sagen eher „kopiert“ wurden und werden, so scheinen dem Ideenreichtum und der Kreativität bei der Schaffung neuer Narrenfiguren nach wie vor keine Grenzen gesetzt zu sein. Nicht alles erscheint dabei auf den ersten Blick gefällig, doch unter all den Neukreationen gibt es auch zahlreiche gelungene, ansprechende Gestalten, bis hin zu den Figuren der Schlegele-Beck-Gruppe aus Radolfzell, die sicherlich zu den Glanzlichtern der neueren Fastnachtsentwicklung zählen. Und schließlich wurden auch an vielen überlieferten Narrenfiguren im Zuge einer allgemeinen Veredelung und Ästhetisierung im 20. Jahrhundert so manche Veränderungen vorgenommen, die nicht immer nur vorteilhaft ausfielen, so dass man teilweise bereits wieder auf frühere Gestaltungsformen zurückgreift. Emotion Alte und neuere Fastnachten unterscheiden sich aber auch in einem weiteren, nicht zu vernachlässigenden Punkt ganz wesentlich: alte Fastnachten sind meist stark emotional geprägt. Wenn die Fastnachtszeit naht, hat man in solchen Narrenstädten das Gefühl, alle fiebern dem größten Fest des Jahres förmlich entgegen. Die Fastnacht wird zum wichtigsten Gesprächsthema, anderes verliert dagegen deutlich an Wichtigkeit. Schränke voller Narrenkleider werden geöffnet, die Kleider gelüftet, Kleider, die oft schon von Generation zu Generation weitergegeben wurden und somit auch ein Stück Familiengeschichte sind. So hat es für manchen etwas sehr Ergreifendes, das Häs vom Vater oder Großvater anzuziehen und damit narren zu gehen. Und welcher neueren Fastnacht wäre nicht die Vorstellung fremd, dass Leute am Straßenrand stehen, denen es beim ersten Erklingen des Narrenmarschs oder angesichts der vorbeijuckenden Narren vor Rührung Tränen in die Augen drückt. Gänsehaut, Ergriffenheit, Wehmut sind Gemütszustände, die jüngere Fastnachten eher nicht kennen. Deutlich macht diesen emotionalen Tiefgang auch die Erzählung eines alten Rottweilers, der an Fastnacht aus gesundheitlichen Gründen nicht narren gehen konnte. Also fuhr er mit seiner Frau ins winterliche Kleinwalsertal, als Alternativprogramm sozusagen. Aber wirklich glücklich ist er dort dann auch nicht geworden, denn ständig musste der „Leidgeplagte“ auf die Uhr schauen, um festzustellen, wo denn nun der Narrensprung gerade unterwegs ist. Seine Flucht vor der Fastnacht war also vergebens, sie hatte ihn selbst ihm fernen Kleinwalsertal eingeholt. Diversifikation Die Vorstellungen und Erwartungshaltungen von Narren wie auch Zuschauern können heutzutage gleichermaßen stark divergieren. Während für die einen – oft gerade jüngere Zünfte – Narrentreffen das Größte sind, gibt es für andere nichts Schöneres als die eigene, heimische Fastnacht. Während die einen durch die stetige Wiederholung des Narrenmarsches geradezu berauscht werden, bevorzugen andere eher Fanfaren- und Schalmeienmusik oder die schrägen Töne einer Guggenmusik. Während der Fastnachtskenner am Straßenrand in Rottweil z. B. immer wieder fasziniert ist von der Vielfalt und Qualität der Rottweiler Larven und Kleidle und die oft feinen, dann wieder auffälligen Unterschiede beim selben Larventypus feststellt, um hin und wieder begeistert Einzelfiguren in der fast unüberschaubaren Narrenschar auszumachen, gibt es auch Zuschauer, denen dies weitgehend verschlossen bleibt. Auf sie wirkt der Vorbeizug der Narren auf die Dauer daher gleichförmig und eintönig. So fragte mich vor Jahren ein Besucher aus Bayern beim Narrensprung in Rottweil, ob es denn in Rottweil nicht noch andere Gruppen gäbe. Er habe zuletzt den Umzug in Horb mit zahlreichen Zünften gesehen. Den habe er viel abwechslungsreicher gefunden. So verschieden sind eben die Geschmäcker. Aber da die südwestdeutsche Fastnachtslandschaft heute dermaßen vielfältig und facettenreich ist, müsste sich eigentlich für jeden Geschmack die passende Art von Fastnacht finden lassen.
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