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Wo Ballerini und Mascarun tanzen In den italienischen Alpen wird Fastnacht noch ursprünglich gelebt Text: Matthias Kühn Fotos: Ralf Siegele
Italien und Karneval – da denkt man natürlich in erster Linie an Venedig. Doch unverfälschte Fastnachtstradition, so sehen es die Menschen beispielsweise in Schignano, wird vor allem in den kleinen Gemeinden gepflegt – also in jenem Dorf oberhalb des Lago di Como. Schignano, ein gutes Stück nördlich von Como gelegen, macht sogar am „Schmutzigen Donnerstag“ und am folgenden Freitag den sonst üblichen Eindruck: In den stillen Gassen des Straßendorfs trotten höchstens ein paar Alte durch die Kälte, ein paar spielende Kinder vervollständigen das Bild. Als Domizil für betuchte Bürger aus Como liegt Schignano zu weit weg und vor allem zu hoch in den Bergen. Im Winter wird das Gelände schnell unwegsam. Aber am Fastnachtssamstag, da kommt Leben auf. Am Vormittag liegt spürbar Spannung über dem Dorf: Aus vielen der alten Häuser klingen zaghaft Töne von Geigen oder Mandolinen, Maskierte huschen die enge Landstraße entlang. Und mittags versammeln sich von einer Minute auf die nächste zahlreiche Schaulustige auf dem kleinen Marktplatz: der „Carneval“ beginnt!
Eine andere Gruppe kommt fast gleichzeitig an: Musikanten und Tänzer in wunderschönen Kostümen und Masken – es sind die „Mascarun“, die Schönen. Geschmückt mit Pfauenfedern, Holzmasken und Gewändern, für deren Herstellung so mancher Winterabend hergehalten haben muss. Kaum sind die „Mascarun“ angekommen, kündet sich die nächste Gruppe an. Laut rasselnd treten Gestalten ins Geschehen, die verlumpt und schäbig scheinen. Jede Schönheit, so eine Grundregel der Alpenfastnacht, braucht ihr Gegenstück, um so richtig zur Geltung zu kommen. So werden die „Mascarun“ von „Carlisepp“ und der „Brut“ umrahmt, die sich schon mal auf dem Straßenpflaster wälzen und sich äußerst derb bewegen – das bekommen auch allzu neugierige Zuschauer zu spüren. Der „Carlisepp“ wird bewacht: Ihm zur Seite stehen ein „Carbinieri“ und ein „Sapeur“ mit geschwärztem Gesicht und gewaltigem Zwirbelbart. „Sapeure“ waren einst gemeine Soldaten, die Gräben ausheben mussten.
Zeit bleibt nun auch, um den „Bagoss Carneval“ zu erleben, die närrischen Tage im lombardischen Dorf Bagolino – denn dort wird nur am Fastnachtsmontag und am Fastnachtsdienstag gefeiert. Bagolino liegt nicht sehr weit entfernt, oberhalb des Gardasees, und es ist noch abgeschiedener als Schignano. Hier ist man stolz auf unglaublich alte Traditionen: 1694 rügte ein Bischof, dass die Priester „in der Karnevalszeit sogar maskiert herumzogen“. Und schon 1518 wurde erlassen, dass teilnehmende Gastzünfte mit Käse zu entlohnen seien. Der Erlass wird bis heute befolgt. In Bagolino, mit immerhin rund 4000 Einwohnern größer als Schignano, kennt sich jedes Kind damit aus. So ist an den beiden Karnevalstagen selbstverständlich das ganze Städtchen auf den Beinen, und spätestens seit 1929 schaut auch die Kirche nur noch zu, wenn auch ungläubig. Denn dort, so schrieb ein Pfarrer damals, „wird im Grunde nichts Schlimmes getan, sogar Siebzigjährige maskieren sich“. Durch die geografische Abgeschiedenheit konnte bis heute jede Generation nahezu ungestört die Eigenarten der vielen Bräuche des Dorfes vollenden. Einzigartig in Italien – und in Europa mit wenigem vergleichbar – ist in Bagolino die strikte Verwurzelung in der Tradition. Hauptattraktionen sind die Tänzer, die „Ballerini“, die Geigen spielenden Musikanten und die Maskenträger, die „Maschèr“. Die Tänzer tragen weiße Masken und fantasievolle rote Filzhüte mit niedriger Wölbung, hergestellt in einer äußerst komplexen Technik, die aber so gut wie alle einheimischen Frauen beherrschen. Alles an der Kostümierung der Tänzer ist bis ins letzte Detail perfekt ausgearbeitet. Sie stecken in einer aus alter Zeit übernommenen Alltagstracht, selbst Socken, „Untersocken“ und Schuhe werden nach strengen Ritualen gefertigt. Was die „Ballerini“ so besonders macht, ist ihre Kopfbedeckung: Auf den Hüten sind sämtliche Kostbarkeiten drapiert, die der Familienschmuck hergibt. So werden Unmengen einzigartiger Wertgegenstände durch die Via San Giorgio in Bagolino getragen. Die Tänzerkompanien tanzen zwar nicht mehr wie früher in verschiedenen Straßen, aber die Konkurrenz ist nach wie vor groß. Die Musik ist bei allen Gruppen identisch, so kann ihre Kunst und das Geschick des Tanzführers tatsächlich objektiv beurteilt werden. Die Anweisungen dieses Tanzführers sind manchmal überraschend: So kann es heißen, dass „mit der eigenen Frau“ getanzt werden soll, obwohl in den Kostümen nur Männer stecken. Dann tanzen die männlichen Masken eben mit den weiblichen, die durch etwas Rouge auf den Wangen gekennzeichnet sind. Nicht ganz so herrschaftlich-vornehm kommen die „Maschèr“ daher, die von überlieferter bäuerlicher Tradition zeugen–und von einer schweren, entbehrungsreichen Vergangenheit. Einst waren die Dorfbewohner durch Masken geschützt, wenn sie sich gegen Unterdrücker wehrten. Die Tarnung besteht nicht nur aus Maske und einheitlicher Kleidung. Bis in die kleinsten Bewegungen agieren die Kostümierten einheitlich, sie sind nicht einmal am Gang zu unterscheiden. Kein Wunder also, dass die „Maschèr“ auch an anderen Dorffesten auftauchen. Wer übrigens versucht, die „Maschèr“ zum Schweigen zu bringen, indem er ihnen „cue, cue!“ zuruft, kann mit bösen Folgen rechnen. So manche Vorwitzige landeten schon im Brunnen … Das ganze Städtchen ist auf den Beinen, und kaum jemand als bloßer Zuschauer. Kostüme, die von den Vorfahren herrühren, bestimmen das Bild in Bagolino. So sieht man zahlreiche knielange Hosen mit quadratischen Hosenläden, kragenlose Hemden, offene Westen, Gamaschen und klobige Schuhe aus Holz und hartem Leder. Die maskierten Gesichter werden oft zusätzlich durch Hüte und Tücher verborgen. Auch die Frauen, die zumeist lange Röcke aus dunklem, grobem Stoff über ihren alten Miedern tragen, sind oft wegen der Kopftücher und Hüte kaum zu erkennen – obwohl sie keine Masken tragen dürfen: Das ist traditionell Männersache! Dafür ragen lange Unterhosen unter den Schürzen hervor, rote Strümpfe in Holzschuhen vervollständigen das rustikale Bild. Für die Zuschauer gibt es aber noch viel mehr zu bestaunen. Zum einen tragen die Kostümierten Gegenstände mit sich, die früher zum Alltagsleben gehörten: Spinnräder, Heugabeln, Stöcke, Rechen, Kuhglocken und Vogelfallen. Zum anderen tauchen noch – wie in Schignano – die Schönen auf, die „Mascarun“. Und auch in Bagolino haben sie die Hässlichen, die Derben an ihrer Seite, um die eigene Schönheit zu heben. Ausgesprochen hässlich und ausgefeilt schlampig sind die Bajazzos mit ihren geflickten Kleidern. Sie tragen Körbe auf den Rücken und versorgen die Tänzer mit Wein, womit sich der Kreis schließt beim „Bagoss Carneval“. Alle schlängeln sich durch die pittoresken Gassen der Gemeinde, sodass kein Haus vom Lärm des Karnevals verschont bleibt. Und die Zuschauer? Zum einen sind es abgewanderte Bagosso, die für ein paar Tage nach Hause kommen, sich aber nicht an den Aktivitäten beteiligen. Sie stehen also Spalier und werden durch die Gesten der „Mascarun“ als scheinbare Menschen von Welt auf den Arm genommen. Zum anderen kommen inzwischen immer mehr Touristen an den beiden Feiertagen Montag und Dienstag – hauptsächlich aber aus den nahe gelegenen Gemeinden und von unten, vom Gardasee. Sie alle werden Zeugen einer jahrhundertealten Tradition, die viel von Leid und Schicksalsschlägen erzählt. Wer die Bräuche respektiert, ist herzlich willkommen in Bagolino. Auch in Schignano sind Besucher immer willkommen. Warum es aber nach Bagolino etliche Touristen zieht, nach Schignano dagegen weniger, das wird wohl kaum zu klären sein. Abgelegen sind schließlich beide Orte. Bagolino ist wohl der schönere Ort, nicht gar so schroff dem Gebirge abgerungen. Und der „Bagoss Carneval“ war mehrmals in Deutschland zu Gast – 2007 beim Internationalen Narrenfest in Endingen und 2011 beim Narrentreffen in Fridingen. Aber ob es daran liegt? Vielleicht wollen die Leute statt volkstümlicher Bräuchen doch lieber Spektakel, und das findet man eben eher in Venedig. Den Einheimischen in den Dörfern der Lombardei ist es leidlich egal. Sie feiern sowieso in erster Linie sich selbst, wie es schon ihre Urgroßeltern und die Generationen davor getan haben. Und die wenigen Besucher genießen es, hautnah am Ursprünglichen zu sein. Solange sie, wie gesagt, die Bräuche respektieren, dürfen sie jedes Jahr wiederkommen. |
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